pro:
Verfall von Flexion
phonologische Reduktion
kontra:
Grammatikalisierung
Ökumenisches Vaterunser (1967)
Unser
Vater im Himmel,
Geheiligt werde Dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
(Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.)
Amen.
Neuhochdeutsch (1901)
Unser
Vater in dem Himmel.
Dein Name werde geheiliget.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.
Unser täglich Brot gib uns heute.
Und vergib unsere Schulden, wie wir unseren Schuldigern vergeben.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Übel.
Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen.
Frühneuhochdeutsch (Luther, 1522)
Vnser
vater ynn dem hymel.
Deyn name sey heylig.
Deyn reych kome.
Deyn wille geschehe auff erden wie ynn dem hymele.
Vnser teglich brott gib vnns heutt,
vnd vergib vns vnsere schulde, wie wyr vnsemn schuldigern vergeben,
vnnd füre vnns nitt ynn Versuchung,
sondern erlose vns von dem vbel,
denn deyn ist das reych, vnd die krafft, vnnd die herlickeyt
in ewickeyt. Amen.
Mittelhochdeutsch (ca. 1300)
vater
unser der da bist in den himeln.
geheiliget wert din name.
zuo kom din rieh.
din wille gewerde in der erden als in dem himele.
unser tegelich brot gip uns hiute.
unt vergip uns unser schulde, als wir vergeben unseren schuldigern.
unt enleite uns nit in bekorunge,
sunder verloese uns von übele. amen.
Althochdeutsch (ca. 830)
Fater unser, thu thar bist in himile,
si giheilagot thin namo,
queme thin rihhi,
si thin uuillo, so her in himile ist, so si her in erdu,
unsar brot taglihhaz gib uns hiutu,
inti furlaz uns unsara sculdi, so uuir furlazemes unsaren sculdigon,
inti ni gileitest unsih in costunga,
uzouh arlosi unsih fön ubile.
Weitere Textbeispiele aus verschiedenen Stufen germanischer Sprachen finden sich hier.
Für frühere Sprachstufen des deutschen fehlen uns die schriftlichen Belege. Aufschlussreich ist aber ein Vergleich des Dt. mit anderen germanischen Sprachen und Dialekten (Niederdt., Niederländisch/Flämisch/Afrikaans, Friesisch, Englisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Isländisch).
zum Beispiel:
(engl.) pepper – Pfeffer
(engl.) tide – Zeit
(nl.) slapen – schlafen
(ndt.) sitten – sitzen
(ndt./nl.) ik – ich
(nl.) dag – Tag
Vergleich Mittelniederdeutsch/Mittelhochdeutsch (13. Jhd., zitiert aus Wikipedia)
Sachsenspiegel (III,45,3) |
Deutschenspiegel (Landrecht Art. 283) |
|
---|---|---|
De man is ok vormunde sines
wives, |
Der man ist auch vormunt
sînes wîbes |
allgemeines Muster (germ. > dt.):
p > pf (am Wortanfang)
p > f (sonst)
t > z (am Wortanfang)
t > s (sonst)
k > ch (außer am Wortanfang)
Das Dt. ähnelt den anderen germanischen Sprachen stark, und dank der allg. Geschichtsschreibung wissen wir, dass Deutsche, Niederländer, Engländer etc. von dem Volk der Germanen abstammen. Deshalb liegt die Annahme nahe, dass alle modernen germanischen Sprachen auf eine gemeinsame Wurzel, das Urgermanische zurückgehen (von dem wir keine schriftlichen Zeugnisse haben). Nur das Hochdt. ersetzt die stimmlosen Verschlusslaute durch Reibelaute. Deshalb ist es plausibel anzunehmen, dass das Niederdt./Nl./Engl. usw. den ursprünglichen urgerm. Lautstand repräsentieren und das Hochdt. einer Wandlung unterlag. Diese sog. Hochdeutsche Lautverschiebung fand vermutl. in der Mitte des ersten Jahrtausends statt.
Bestätigt wird das durch schrift. Zeugnisse in Gotisch, einer ausgestorbenen germ. Sprache, die dem Urgerm. noch recht nahe stand.
Auch zwischen den germanischen Sprachen einerseits und verschiedenen anderen europäischen und west- und südasiatischen Sprachen gibt es systematische Parallelen und Lautersetzungen (siehe auch Wikipedia-Eintrag zu Grimm's Law):
p
-> f
lateinisch pater
gotisch fadar
englisch father
standarddeutsch Vater
k
-> h (Anlaut)
lateinisch cornu
gotisch hau rn
englisch horn
standarddeutsch Horn
k
-> ch (Inlaut)
lateinisch okto
gotisch ahtau
niederdeutsch acht
standarddeutsch acht
t -> th
lateinisch frater
gotisch brothar
englisch brother
standarddeutsch Bruder
b -> p
lateinisch labi 'schlüpfen'
gotisch slepan
englisch sleep
niederdeutsch slapen 'schlafen'
d -> t
lateinisch edere
gotisch itan
englisch eat
niederdeutsch eten 'essen'
g -> k
lateinisch genu
gotisch kniu
englisch knee
standarddeutsch Knie
bh -> b
altindisch Bratar
gotisch brothar
englisch brother
standarddeutsch Bruder
dh -> d
sanskrit adham 'ich setzte/stellte'
englisch deed
h -> g
lateinisch hostis
gotisch gasts
englisch guest
standarddeutsch
Gast
Man nimmt an, dass die Vorläufersprache des Urgermanischen stärker etwa dem Latein oder altindischen Sprachen ähnelte und in der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends ein systematischer Lautwandel stattfand – die erste bzw. germanische Lautverschiebung.
Im 19. und 20. Jahrhundert entdeckten Linguisten eine Vielzahl derartiger “Lautgesetze”. Sie erlauben es, Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Sprachen zu bestimmen und schriftlich nicht dokumentierte Ursprachen teilweise zu rekonstruieren.
siehe auch diese Folien
Aus Perspektive der Sprachhistoriker des 19. Jhd. stellte sich Sprachwandel tatsächlich als ein Verlust von grammatischen Reichtum dar. Man vergleiche zum Beispiel die folgenden Substantiv-Flexionen in verschiedenen indo-europäischen Sprachen:
Substantive wurden nach acht Fällen (Nominativ, Akkusativ, Genitiv, Dativ, Instrumental, Ablativ, Lokativ, Vokativ) und nach Singular, Plural, und Dual dekliniert. Es gab drei Geschlechter: Maskulin, Feminin und Neutrum.
Singular | |||||
---|---|---|---|---|---|
Kons. | o-Stämme | eh2-Stämme | i-Stämme | u-Stämme | |
Nominativ | -s, -ø | -o-s | -eh2-ø | -i-s | -u-s |
Vokativ | -ø | -e-ø | -eh2-Ø | -ey-ø | -ew-ø |
Akkusativ | -m̥ | -o-m | -eh2-m | -i-m | -u-m |
Neutrum | -ø | -o-m | - | -i-Ø | -u-Ø |
Genitiv | -s, -es, -os | -os(y)o, -i-(?) | -eh2-e/os | -oy-s | -ow-s |
Dativ | -ey | -ōy (< -o-ey) | -eh2-ey | -ey-ey | -ew-ey |
Instrumental | -bhi, -mi, -(e)h1 | -o-h1, -e-h1 | -eh2-bhi, -eh2-eh1(?) | -i-bhi, -i-h1 | -u-bhi, -u-h1 |
Ablativ | = Gen. | -ōt, -āt | = Gen. | = Gen. | = Gen. |
Lokativ | -i,-ø | -o-y, -e-y | -eh2-i | -ēy-ø | -ēw-ø |
Plural | |||||
Kons. | o-Stämme | eh2-Stämme | i-Stämme | u-Stämme | |
Nominativ | -es | -ōs (< -o-es), -oy (pron.) | -eh2-es | -ey-es | -ew-es |
Vokativ | = Nom. | = Nom. | = Nom. | = Nom. | = Nom. |
Akkusativ | -m̥s | -o-ms | -eh2-ms | -i-ms | -u-ms |
Neutrum | -h̥2 | -e-h2 | - | -i-h2 | -u-h2 |
Genitiv | -om(?) | -ōm (< -o-om?), -oysōm (pron.) | -eh2-om, -eh2sōm (pron.) | -y-om | -w-om |
Dativ | -bhos, -mos | -o-bhos, -o-mos | -eh2-bhos, -eh2-mos | -i-bhos, -i-mos | -u-bhos, -u-mos |
Instrumental | -bhis, -mis | -ōys, -o-mis(?) | -eh2-bhis, -eh2-mis | -i-bhis, -i-mis | -u-bhi, -u-mis |
Ablativ | = Dat. | = Dat. | = Dat. | = Dat. | = Dat. |
Lokativ | -su | -oysu (pron.) | -eh2-su | -i-su | -u-su |
Über den Dual kann kaum eine Aussage gemacht werden, außer dass die Endung im Nominativ/Vokativ/Akkusativ -h1 oder -e gewesen sein dürfte.
Deklinations-Überblick
Hier eine Übersicht mit regelmäßig flektierten Substantiven (-> Vokativ und Lokativ werden weiter oben gesondert beschrieben, im Plural ist der Ablativ stets gleich dem jeweiligen Dativ); die Reihenfolge der Kasus wurde dabei aufgrund besserer Übersichtlichkeit leicht geändert:
Kasus | a-Stämme | o-Stämme | e-Stämme | u-Stämme | i-Stämme | Konsonantisch |
Nominativ Sg. Akkusativ Singular |
domina dominam |
dominus dominum |
rēs rem |
portus portum |
turris turrim |
plebs plebem |
Genitiv Sg. | dominae | dominī | reī | portūs | turris | plebis |
Dativ Sg. Ablativ Sg. |
dominae dominā |
dominō | reī rē |
portuī portū |
turrī | plebī plebe |
Nominativ Pl. Akkusativ Pl. |
dominae dominās |
dominī dominōs |
rēs rēs |
portūs | turrēs turrīs |
plebēs |
Genitiv Pl. | dominārum | dominōrum | rērum | portuum | turrium | plebum |
Dativ Pl. Ablativ Pl. |
dominīs | dominīs | rēbus | portibus | turribus | plebibus |
|
Kasus | e-Klasse | e-Klasse (ohne "e") |
er-Klasse | en-Klasse | en-Klasse (ohne "e") |
---|---|---|---|---|---|
Tag (mask.) | Sockel (mask.) | Haus (neutr.) | Mensch (mask.) | Traube (fem.) | |
Nominativ Singular Akkusativ Singular |
der Tag den Tag |
der Sockel den Sockel |
das Haus | der Mensch den Menschen |
die Traube |
Genitiv Singular | des Tages | des Sockels | des Hauses | des Menschen | der Traube |
Dativ Singular | dem Tage | dem Sockel | dem Haus | dem Menschen | der Traube |
Nominativ Plural Akkusativ Plural |
die Tage | die Sockel | die Häuser | die Menschen | die Trauben |
Genitiv Plural | der Tage | der Sockel | der Häuser | der Menschen | der Trauben |
Dativ Plural | den Tagen | den Sockeln | den Häusern | den Menschen | den Trauben |
Englisch, Französisch, Niederländisch usw.: keine Kasusunterscheidungen mehr
Es scheint also tatsächlich so, dass im Sprachwandel der letzten Jahrtausende die Komplexität und Regularität der Grammatik ständig abgenommen hat. Die Zunahme von Irregularität ist jedoch eine "optische Täuschung" (Argument nach Deutscher 2005:113):
Präsens: kiesen, Partizip: gekoren
Der Verfall des Flexionsreichtums des Ie. ist echt, aber auch hier gibt es Gegentendenzen. Verlust von Flexion ist ein Resultat von phonologischer Reduktion. Der selbe Prozess führt aber auch zur Verschmelzung von Wörtern und damit zur Entstehung von neuen Flexionen.
Das Französische verfügt über ein elaboriertes Formensystem der Verben. (Die folgenden Tabellen sind Deutscher 2005 entnommen.)
Dieses Flexionsparadigma hat sich aus syntaktischen komplexen Konstruktionen des Lateinischen entwickelt.
Generell führt Sprachwandel zwar einerseits zum Verfall von grammatischer Komplexität. Andererseits entsteht durch Verschmelzung von Phrasen und ähnliche Prozesse (sogenannte Grammatikalisierung) grammatische Komplexität neu. Sprachwandel kann also als eine Art zyklischer Prozess aufgefasst werden.